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Geschichte Kind

Ein kleiner Angsthase – Eine Geschichte von Annemarie Stern aus Haldensleben

Hans-Otto hat oft Angst - vor allem vor Monstern und Gespenstern

22. Juli 2018


Eine Geschichte von Annemarie Stern

Hans-Otto war kein gewöhnliches Kind. Nein, er hatte von klein auf eine sehr ausgeprägte Fantasie, stellte seine Mutti fest. Er wurde zu einem kleinen Angsthasen.  Er war ein echtes Schreibaby, das seine Eltern nächtelang auf Trab hielt. Die Mama kaufte Hans-Otto vor Verzweiflung – gegen  ihren Willen – einen Schnuller, den sie ihrem Schreihals in den Mund schob, sowie er zu brüllen anfing. Aber nun schrie er auch, wenn ihm der Nuckel beim Schlafen aus dem Mund fiel. In ihrer Verzweiflung kauften die Eltern noch zwei Schnuller, für jede Hand einen, den er selbst in den Mund nehmen sollte, wenn ihm einer beim Schlafen entgleiten sollte. Aber nun meldete sich Hans-Otto bereits lauthals, wenn ihm ein Nuckel aus der geöffneten Faust fiel! …  

Die genervten Eltern schoben das Körbchen mit ihrem schreienden Baby und den drei Nuckeln ins Wohnzimmer. Dort ließen sie es  schreien, bis es auch ohne Nuckel einschlief. Seine Mama hatte ein sehr schlechtes Gewissen. Sie überlegte: „Können Babys schon träumen? Wahrscheinlich hat er einen schlechten Traum? Vielleicht sollte ich ihn doch hochnehmen und trösten, oder ihm einfach den Nuckel in den Mund stecken?“ Aber der Vati war strikt dagegen.

Trotzdem entwickelte sich Hans-Otto zu einem  lebhaften, kleinen Jungen. An seinem dritten Geburtstag sagte die Mutti zu ihm: „Hansi, du bist nun schon ein großer Junge und du nuckelst immer noch. Brauchst du deine Nuckel wirklich? Im Kindergarten lachen dich bestimmt  alle Kinder aus, wenn du als Einziger mit drei Nuckeln kommst und einen davon beim Mittagsschlaf brauchst. Wollen wir sie nicht alle drei auf den Balkon legen? Die Tauben bringen die Nuckel  in der Nacht dann zu den ganz kleinen Babys, die noch einen brauchen.“ Hansi überlegte sich den Vorschlag seiner Mutti ganz genau, bevor er zustimmte. 

Es war eine sternenklare Nacht, als Hansi seine  Nuckel auf einem Lätzchen auf den Balkon legte. Hansi war sehr stolz auf sich. Er wurde ja nun auch ein Kindergartenkind. Am nächsten Tag schaute Hansi gespannt auf den Balkon. Die drei Nuckis waren nicht mehr da! „Mami“, fragte er atemlos, „freuen sich die Babys jetzt, dass sie meinen Nucki haben, bin ich nun ein großer Junge?“ „Ja das bist du“, sagte die Mutti lächelnd. 

Die Familie war sehr froh, dass die „Nuckelepisode“ nun der Vergangenheit angehörte. Aber der  Nachtschlaf der Familie war leider nicht von langer Dauer. Denn bald darauf weinte Hans-Otto sehr oft mitten in der Nacht laut auf und rief. „Da klopft ein Monster hinten an die Wand, das will mich fressen!“ Oder: „Hinter dem Schrank sitzt ein Gespenst! Es macht mir Angst!“ Nun hielten die Mutti und Hansi jeden Abend unter dem Bett, hinter der Übergardine, auf dem Fensterbrett  nach Ungeheuern und Monstern Ausschau. Erst, wenn das Kinderzimmer absolut monsterfrei war, legte sich Hans-Otto in sein Bett. Dafür musste nun die Kinderzimmertür ein Spalt breit geöffnet bleiben, und das Licht durfte im Winter auf dem Flur auf keinen Fall ausgeschaltet werden. Die grausigsten Gespenster waren für den kleinen Angsthasen „das Gespenst“ und „das Monster mit den rotglühenden Augen“. Das Allergruseligste aber war „Die Teusch“. Wobei niemand jemals rausbekam, was „Die Teusch“  eigentlich war, und wovor genau sich Hansi fürchtete. Sie existierte nur in seiner eigenen Fantasie. 



Auch als Hans-Otto ein Schulkind war, durfte die Tür im Winter abends nicht geschlossen werden und das Licht brannte auf dem kleinen Flur. Eines Abends im März sagte die Mutti, als sie Hans-Otto zum Schlafen brachte: „Schade, dass wir in diesem Jahr nicht in den Urlaub fahren können. Aber unser Geld reicht nicht. Das Lichtgeld ist einfach zu hoch, es frisst unser ganzes Urlaubsgeld auf.“ Sie seufzte tief und schaute auf den erleuchteten Flur.  Hans-Otto konnte lange nicht einschlafen. Die Worte seiner Mutti rumorten in seinem Kopf. Keinen Urlaub? Aber auf den Campingurlaub freute sich die Familie doch das ganze Jahr! Er auch!  Ihm kam eine Idee und endlich konnte er erleichtert einschlafen. 

Mutig sagte er am nächsten Abend zu seiner Mutti: „Du brauchst die Tür ab heute nicht mehr offen zu lassen und das Licht auf dem Flur kann auch aus.“ Die Mutti fragte erstaunt: „Das Licht soll ich ausknipsen und sogar die Tür schließen? Dann höre ich gar nicht, wenn du rufst! Falls die Gespenster kommen! Also, die Tür würde ich sehr gern geöffnet lassen.“ „Kannst du“, sagte Hans-Otto und ein großer, dicker Stein fiel ihm vom Herzen. Erleichtert vertraute er seiner Mutti an: „Gespenster und das Monster kommen gar nicht mehr sehr oft. Nur die ‚Die Teusch‘ ruft mich manchmal noch. Bis ich aufwache! Aber der ollen Teusch werde ich beim nächsten Mal sagen: Hau ja ab, du doofe Teusch, brauchst nicht mehr zu rufen, ich komme doch nicht!“ Die Mutti war so froh, dass sie sogar das schlechte Wort überhörte. „Die Teusch“ lockte ihn erst noch eine Weile, aber dann sagte er laut: „Hau bloß ab, du doofe Teusch!“ Und das Rufen der Teusch wurde leiser und leiser, bis es irgendwann zu einem Flüstern wurde und dann ganz verstummte.



Einmal noch besuchte ihn das Monster mit den rotglühenden Augen. Wie aus dem Nichts stand es plötzlich an seinem Bett, fasste ihn mit seinen eiskalten, knochigen  Händen an, rüttelte ihn und knurrte mit dumpfer Stimme: „Steh auf, steh auf! Komm, komm endlich!“ Es zerrte an seiner Bettdecke. Hansi aber fiel vor Entsetzen das schlimme Wort nicht ein! Er kämpfte mit dem Monster, verknäulte sich immer mehr in seiner Bettdecke, strampelte, boxte mit den Fäusten in die Luft, aber nichts half. Endlich schlug er am ganzen Körper zitternd die Augen auf. Seine große Schwester stand an seinem Bett und versuchte ihn zu wecken! „Mensch“, sagte er erleichtert, „ich dachte schon du wärst das Monster.“ Seine Schwester zeigte ihm einen Vogel und sagte: „Ach, du spinnst doch!“ Hansi aber war überglücklich, dass das Monster sich als seine Schwester entpuppt hatte. 

Und so fuhr die Familie zum Campen an den See. Hans-Otto war richtig stolz und glücklich, dass der gemeinsame Urlaub durch die Überwindung seiner Gespensterangst möglich geworden war. Aber das blieb ganz allein sein Geheimnis. Mit einem lauten Juchzer lief er in das hochaufspritzende Wasser des Sees.