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Richterhammer, 08 Uhr

Aus dem Gerichtssaal: Aufwandspauschale bei der Prüfung von Krankenhausabrechnungen

09. Januar 2019

Bundesverfassungsgericht

Die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nach der es bezogen auf die Rechtslage vor 2016 bei der Prüfung einer Krankenhausabrechnung unter Einbeziehung des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK), neben der gesetzlich ausdrücklich vorgesehenen „Auffälligkeitsprüfung“ noch eine davon unabhängige „Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit“ gab, die zu keinem Anspruch der Krankenhäuser auf Zahlung einer Aufwandspauschale gegen die Krankenkassen führte, überschreitet die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung nicht. Mit dieser Begründung hat die 1. Kammer des Ersten Senats mit veröffentlichtem Beschluss die Verfassungsbeschwerden mehrerer Träger von Krankenhäusern gegen Entscheidungen des Bundessozialgerichts nicht zur Entscheidung angenommen.

Sachverhalt:

1. Die Abrechnung von Krankenhausleistungen erfolgt in Deutschland überwiegend so, dass unterschiedliche Diagnose- und Prozedurenkombinationen in Gruppen zusammengefasst werden, die einen vergleichbaren ökonomischen und von der konkreten Verweildauer der Patienten unabhängigen Aufwand der Krankenhäuser abbilden sollen (sogenanntes DRG-System). Auf Grund der Komplexität dieses Systems kommt es unstreitig in erheblichem Maße zu Fehlkodierungen der für die Abrechnung maßgeblichen Diagnosen und Prozeduren. Deshalb ist die Kontrolle von Abrechnungen für die Krankenkassen von großer Bedeutung, andererseits für die Krankenhäuser mit erheblichem wirtschaftlichem und organisatorischem Aufwand verbunden. Das gilt insbesondere für Prüfungen auf der dritten Stufe des vom Bundessozialgericht entwickelten Prüfsystems der Abrechnung von stationären Krankenhausleistungen: Danach prüfen die Krankenkassen auf einer ersten Stufe die von den Krankenhäusern übermittelten Daten. Erschließen sich die Notwendigkeit der Krankenhausbehandlung oder die Richtigkeit der Abrechnung der Krankenkasse aufgrund dieser Angaben, daran anknüpfender Nachfragen oder eines Kurzberichts über die Behandlung nicht, ist auf der zweiten Stufe ein Prüfverfahren unter Einschaltung des MDK einzuleiten. Dazu hat die Krankenkasse dem MDK die zur Begutachtung erforderlichen Unterlagen vorzulegen, die ihr vom Krankenhaus zur Verfügung gestellt worden sind. Ist der Sachverhalt auch auf dieser Grundlage nicht zu klären, hat das Krankenhaus schließlich auf einer dritten Stufe dem MDK alle weiteren Angaben zu erteilen und Unterlagen vorzulegen, die im Einzelfall zur Beantwortung der Prüfanfrage der Krankenkasse benötigt werden.

Die Pflicht der Krankenkassen zur Einholung einer Stellungnahme des MDK ist in § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V geregelt. In diesem Rahmen war bis zu einer Gesetzesänderung zum 1. Januar 2016 die auch den hiesigen Verfahren zugrunde liegende Frage umstritten, ob alle denkbaren Prüfungen von Krankenhausabrechnungen durch die Krankenkassen unter Einbeziehung des MDK von § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V erfasst werden und die Krankenkassen daher durchgängig die daran anknüpfenden Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V zu beachten und gegebenenfalls die dort vorgesehene Aufwandspauschale in Höhe von 300 Euro nach dessen Satz 3 zu zahlen haben oder ob es – so die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts – neben einer dort geregelten „Auffälligkeitsprüfung“ noch eine davon unabhängige und in den maßgeblichen Zeiträumen den Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V nicht unterworfene und damit keine Aufwandspauschale auslösende „Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit“ gibt.

Mit Wirkung zum 1. Januar 2016 fügte der Gesetzgeber als Reaktion auf die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts § 275 Abs. 1c SGB V einen Satz 4 an. Danach ist als Prüfung nach Satz 1 jede Prüfung der Abrechnung eines Krankenhauses anzusehen, mit der die Krankenkasse den MDK beauftragt und die eine Datenerhebung durch den MDK beim Krankenhaus erfordert.

2. Die Verfassungsbeschwerden richten sich gegen die Rechtsprechung des 1. Senats des Bundessozialgerichts, wonach eine Aufwandspauschale bei der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit einer Krankenhausabrechnung vormals nicht geltend gemacht werden konnte.

3. Die Beschwerdeführerinnen sind Träger von Krankenhäusern; dabei befinden sich die Beschwerdeführerinnen zu 2. und zu 3. im Verfahren 1 BvR 318/17 und die Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 2207/17 vollständig oder mehrheitlich in kommunaler, die übrigen Beschwerdeführerinnen in privater Hand. Die Ausgangsverfahren betrafen durchgängig und mit weitgehend vergleichbaren Sachverhalten die Frage, ob ein Anspruch auf die Aufwandspauschale nach § 275 Abs. 1c Satz 3 SGB V auch nach einer Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit unter Einbeziehung des MDK besteht. Während die Beschwerdeführerinnen vor den Instanzgerichten Erfolg hatten, hob das Bundessozialgericht die instanzgerichtlichen Verurteilungen zur Zahlung der Pauschale auf und wies die Klagen ab. Mit den Verfassungsbeschwerden rügen die Beschwerdeführerinnen, die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts überschreite die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung.

Wesentliche Erwägungen der Kammer:

1. Die Verfassungsbeschwerden der Beschwerdeführerinnen zu 2. und zu 3. im Verfahren 1 BvR 318/17 und der Beschwerdeführerin im Verfahren 1 BvR 2207/17 sind unzulässig, weil diese wegen ihrer Zugehörigkeit zur öffentlichen Hand nicht grundrechtsfähig sind.

2. Hinsichtlich der Rüge, das Bundessozialgericht habe die Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung überschritten, sind die Verfassungsbeschwerden unbegründet. Selbst wenn man davon ausgeht, es handele sich um richterliche Rechtsfortbildung, sind deren verfassungsrechtliche Grenzen durch die angegriffenen Entscheidungen noch nicht überschritten.

a) Einfachrechtlich wäre zwar ein anderes Verständnis der maßgeblichen Vorschriften vertretbar. Das aber führt nicht zur Verfassungswidrigkeit der hier angegriffenen Entscheidungen. Dem Wortlaut des § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V kann nicht entnommen werden, dass die Vorschrift alle denkbaren Abrechnungsprüfungen der Krankenkassen unter Einbeziehung des MDK erfasst und den Regelungen des § 275 Abs. 1c SGB V unterwirft.

b) Das Bundessozialgericht kann sich für die Differenzierung zwischen der sogenannten Auffälligkeitsprüfung und der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit auf nachvollziehbare Anknüpfungspunkte stützen.

Die im Wortlaut der Norm ausdrücklich angesprochenen Auffälligkeiten identifiziert das Bundessozialgericht mit Fragen, die sich mit Blick auf die Notwendigkeit der stationären Behandlung dem Grunde und dem Umfang nach ergeben. Bestehen diesbezüglich Zweifel, macht dies vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots die Prüfung erforderlich, ob die stationäre Behandlung (in diesem Umfang) als gerechtfertigt angesehen werden kann und es sich also um die Abrechnung einer als solchen rechtmäßigen Leistung handelt. Das korrespondiert mit der Prüfung der Leistungserbringung nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 SGB V, sofern entsprechende Fragen erst anlässlich der Abrechnung auftreten. Dieses Verständnis des Bundessozialgerichts erscheint auf Grund des Zusammenhangs beider Alternativen des § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V und angesichts der im einleitenden Satzteil der Vorschrift für beide Fallgruppen einheitlich aufgeführten Kriterien für die Anforderung einer Stellungnahme des MDK nicht unvertretbar. Zudem zielen die Prüfungen nach § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V im Krankenhausbereich auch historisch primär auf die Notwendigkeit einer stationären Behandlung, wie das Bundessozialgericht in den angegriffenen Entscheidungen nachvollziehbar herausgearbeitet hat. Die Einfügung der zweiten Alternative in § 275 Abs. 1 Nr. 1 SGB V lässt sich in diesen Kontext plausibel einordnen.

Mit der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit nimmt das Bundessozialgericht einen aus dem Vertragsarztrecht bekannten Begriff auf. Dort war als ein Unterfall der Wirtschaftlichkeitsprüfung eine „Auffälligkeitsprüfung“ im Gesetz verankert; der Wirtschaftlichkeitsprüfung stand eine Abrechnungsprüfung gegenüber, die auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit und Plausibilität der Abrechnungen und deren sachlich-rechnerischer Richtigkeit zielte. Hiermit vergleichbar bezieht das Bundessozialgericht das Prüfregime der sachlich-rechnerischen Richtigkeit auf die Frage der Fehlerfreiheit der Abrechnung einer als solcher dem Grunde und dem Umfang nach rechtmäßigen stationären Krankenbehandlung. Damit kann das Bundessozialgericht auch für den Begriff der sachlich-rechnerischen Richtigkeit und deren Prüfung auf einen Anknüpfungspunkt im Gesetz verweisen, auch wenn er sich in einem anderen Kontext findet. Für seine Übertragung auf die Prüfung der Krankenhausabrechnungen kann sich das Bundessozialgericht  nachvollziehbar darauf berufen, dass § 301 SGB V die Krankenhäuser zur Übermittlung der für die Prüfung der Kodierung und damit der Höhe des Leistungsbetrags wesentlichen Daten an die Krankenkassen verpflichtet.

Die Beschwerdeführerinnen stützten ihre Rüge weiter darauf, dass für die Durchführung sachlich-rechnerischer Prüfungen keine ausreichende Rechtsgrundlage zur Verfügung stehe. Sie haben sich aber nicht substantiiert damit auseinandergesetzt, dass sie sich in diesem Fall gegen die Durchführung einer derartigen Prüfung hätten wehren können, statt sie zu dulden und dann im Anschluss daran die Aufwandspauschale zu liquidieren.

In der Sache hat die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts durchaus gewichtige Gründe für sich, auch wenn angesichts der Materialien kaum zu übersehen ist, dass der Gesetzgeber sich diese im Kontext der Einführung und Änderung von § 275 Abs. 1c SGB V nicht zu eigen gemacht hat.

Zum allgemeinen Argument zum Recht eines jeden Schuldners, die Berechtigung der ihm gegenüber erhobenen Forderungen nach Grund und Höhe zu prüfen, treten spezifische Überlegungen aus dem Verhältnis von Krankenhäusern und Krankenkassen hinzu: Schon die von den Beschwerdeführerinnen mitgeteilte Höhe der für die stationäre Krankenhausbehandlung typischerweise anfallenden Kosten und deren regelmäßige Steigerung lassen es verständlich erscheinen, dass das Bundessozialgericht eine eingeschränkte Prüftätigkeit der Kassen als problematisch angesehen hat. Ein nachvollziehbarer Grund für das vom Bundessozialgericht hervorgehobene legitime Interesse der Krankenkassen, die sachlich-rechnerische Richtigkeit von Abrechnungen prüfen zu können, ergibt sich zudem aus den Besonderheiten des Abrechnungssystems: Dabei geht es weniger um bewusste Falschabrechnungen. Plausibel ist ein Prüfungsbedarf vielmehr wegen des Charakters des Systems als lernendes System: Wo Fehlsteuerungen und Fehlerquellen auftreten und Reformbedarf besteht, wird für Krankenkassen erst erkennbar, wenn sie Abrechnungen ohne Einschränkungen und unter Zuhilfenahme des medizinischen Sachverstandes des MDK prüfen.

Die hohe Zahl von über 40 % fehlerhafter Abrechnungen verdeutlicht diesen Prüfungsbedarf, selbst wenn die notwendigen Korrekturen im Ergebnis nicht in allen Fällen zu einer Reduzierung des Abrechnungsbetrags führen. Die Komplexität des Finanzierungssystems und die Vielzahl selbständiger Krankenhäuser als Gläubiger zeigt, dass unzutreffende Abrechnungen kein zu vernachlässigendes Phänomen darstellen.

Auch die Gesetzgebungsmaterialien stehen der angegriffenen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts nicht entgegen: Zwar sprechen die Materialien zur Einführung von § 275 Abs. 1c SGB V durch das Fallpauschalengesetz für einen weiten Anwendungsbereich der Vorschrift. Eindeutigen Ausdruck in Wortlaut und Systematik haben die dortigen Erwägungen allerdings nicht gefunden. Die Rechtsänderung zum 1. Januar 2016 verstärkt zudem entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerinnen diese Indizwirkung nicht: Zwar ist unverkennbar, dass mit der Anfügung von § 275 Abs. 1c Satz 4 SGB V die streitige Rechtsprechung korrigiert werden sollte. In der Begründung zum Entwurf des Krankenhausstrukturgesetzes wird jedoch die vom Bundessozialgericht vorgenommene Unterscheidung bestätigend aufgenommen und die Pflicht zur Zahlung einer Aufwandspauschale in Fällen der Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit als „Neuregelung“ bezeichnet. Mit Blick auf die verfassungsrechtliche Bedeutung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung sind solche Ausführungen in Gesetzgebungsmaterialien, die eine ständige Rechtsprechung grundsätzlich akzeptieren, zweifellos von Bedeutung, selbst wenn sie im Rahmen einer deren Auswirkungen für die Zukunft weitgehend korrigierenden Gesetzesänderung erfolgen. Geht man vor diesem Hintergrund von einer vom Gesetzgeber akzeptierten Differenzierungsmöglichkeit zwischen einer Auffälligkeitsprüfung und einer Prüfung der sachlich-rechnerischen Richtigkeit aus, ergibt sich insgesamt das Bild eines verfassungsrechtlich akzeptablen Wechselspiels von Rechtsprechung und Rechtsetzung.

c) Die Annahme des Bundessozialgerichts, die Anfügung von Satz 4 an § 275 Abs. 1c SGB V entfalte erst ab 1. Januar 2016 Wirkung und sei nicht als zurückwirkende Klarstellung der ohnehin geltenden Rechtslage anzusehen, verletzt die Grenzen verfassungsrechtlich zulässiger Rechtsfortbildung nicht. Zum einen handelt es sich insoweit um die einfachrechtliche Auslegung der Regelungen über das Inkrafttreten des Krankenhausstrukturgesetzes, die allein an dem von den Beschwerdeführerinnen nicht hinreichend substantiiert gerügten Willkürverbot aus Art. 3 Abs. 1 GG zu messen wäre. Zum anderen lässt sich die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zu dieser Frage mit Blick auf den Wortlaut, die andernfalls entstehende Rückwirkungsproblematik und die Materialien zum Krankenhausstrukturgesetz rechtfertigen.

1 BvR 318/17, 1 BvR 2207/17, 1 BvR 1474/17